Gewohnheiten

Friedemann/ Juli 12, 2020

Manchmal, wenn ich abends zur Ruhe komme, zuhause und dann allein, dann greife ich gern zum Telefon: Jetzt hätte ich Lust, jemand anrufen. Einfach so, die gefühlte Stimmung teilen, ein Weilchen erzählen. Nichts Besonderes. Im Telefonbuch sind eine Handvoll Leute gespeichtert, mit denen ich einfach so, ziellos plaudern kann. Leute, die ich schon lange kenne, mit denen mich irgendeine Geschichte verbindet. Oder auch die Familie.

Neulich ist es also wieder so, Lust mit jemand telefonieren und plötzlich taucht völlig realistisch die Situation vor meinem inneren Auge auf, die ich gefühlt tausendmal erlebt habe: Ich wähle die Siebzig-Fünfundsiebzig-Neunundachtzig und es meldet sich die Stimme meiner Mutter: „Ja, hallo?“ Ich: „Hier auch hallo.“ Ein Ritual, das sich über die Jahre eingespielt hat. Dann: „Wollte bloß mal horchen, wie´s dir geht.“ Und dann erzählt sie von ihren letzten Erlebnissen draußen – eine Ausstellung, die sie besucht hat, ein Ausflug in der Nähe an eine ihrer Lieblingsstellen, eine Neuigkeit von der Familie, ein gemalter Blick aus einem Fenster über die Dächer der Stadt, vom dem sie erzählen muss. Es sind keine besonderen oder aufregenden Gespräche, meist geht es nur um Alltägliches, das nicht wirklich spannend ist. Aber es ist eine Gewohnheit, die mir lieb geworden ist, nur dass ich das bisher noch nicht so wusste.

Jetzt, wo sie nicht mehr da ist, fühlt sich vieles anders an. Auch solch eine Gewohnheit. Sie hat sich eingeprägt und wird nicht verschwinden. Oder manche Orte, die blitzschnell eine Verbindung herstellen: Unser letzter Ausflug mit dem Rollstuhl. Es begann zu regnen, ich kurvte mit ihr um die Pfützen bis an den Waldrand, dort standen wir dann unter Bäumen und warteten ein Weilchen, bis es nicht mehr ganz so stark regnete. Für sie war es ein Erlebnis – endlich wieder mal im Wald zu sein, nach Monaten mit Krankenhaus, Reha usw. Dann komme ich bei einem Spaziergang an der Stelle vorbei. Warte, bis die anderen weitergegangen sind, stelle mich unter die Bäume, schaue nach oben in die Wipfel. Und wenn ich am Haus vorbeifahre, in dem sie gewohnt hat, schaue ich hoch auf die Erkerfenster, wohl WISSEND, dass sie nicht mehr da ist.

Da ist er dann wieder ein, meist kleiner, Schmerz für einen Augenblick. Einer der mich daran erinnert: Du bist jetzt in die letzte Generation aufgerückt. Willst du wirklich so weiterleben, wie bislang, oder doch noch, mit den Gewohnheiten zu brechen? Lohnt es noch? Und am Ende weiß ich, wie´s ausgeht. Für diesmal.